Fünf Jahrzehnte ohne Antwort
Katherina Giovanettina ist in einem kleinen Dorf im Kanton Bern aufgewachsen. Als Kind war sie untergewichtig und immer etwas kränklich. Das wurde in den 60er Jahren auf dem Land nicht gross hinterfragt.
Gerne wäre sie nach der fünften Klasse in die Sekundarschule gegangen, aber das war damals keine Option. Ihre Eltern befanden, dass sie zu schwach war, um den langen Schulweg zu bewältigen.
Im Gegensatz zu ihr war ihre Schwester so gut wie nie krank. Lange wurde ihr Zustand als Laune der Natur hingenommen. «Das änderte sich als eine Unterfunktion der Schilddrüse und Gelenkschmerzen dazu kamen, da war ich etwa 17jährig. Von da an Stand immer die Schilddrüse im Mittelpunkt», erinnert sich Katherina Giovanettina.
Psychische Ursachen vermutet
In den darauffolgenden Jahren absolvierte die Bernerin nach Sprachaufenthalten im Tessin und in der Romandie trotz ihrer Beschwerden eine Ausbildung als Krankenpflegerin. Sie arbeitete danach während über dreissig Jahren zuerst im Inselspital, dann im Spital Münsingen. Daneben häuften sich die Untersuchungen, denn die Symptome nahmen zu. Zu den Gelenkschmerzen gesellten sich starke Bauchschmerzen und Erschöpfung. Trotz zahlreicher Abklärungen wurde nie etwas gefunden – sie galt als körperlich gesund. «Für manche Ärzte lag der Schluss nahe, dass die Ursachen eher psychischer Natur waren», sagt die Bernerin. Auch sie fing an zu zweifeln. Denn es gab auch immer wieder Momente, in denen sie praktisch schmerz- und beschwerdefrei war. Überlastung oder Stress durch Arbeit, Haushalt, familiäre Probleme – es fand sich immer ein Grund für ihre Leiden.
Nach 53 Jahren endlich Gewissheit
Doch die Symptome blieben und wurden stärker. Katharina Giovanettina hatte schon alles ausprobiert und wandte sich schliesslich an einen Psychologen, auch das ohne Erfolg. Die Wende brachte schliesslich eine Endokrinologin in Bern. Sie glaubte ihr und schickte sie immer wieder zu anderen Spezialisten. Während 13 Jahren. Bis endlich ein Neurologe die Diagnose stellte: "Mitochondriale Zytopathie mit Gendefekt". Seither weiss die zweifache Mutter, dass es noch weitere Betroffene in der Schweiz gibt. Dass die Symptome sehr unterschiedlich sein können, was eine Diagnose zusätzlich erschwert. Und dass die Krankheit unheilbar ist.
Patienten ernst nehmen
Medikamente, Physio- und Ergotherapie helfen, die Symptome zu lindern. Dennoch musste die ehemalige Krankenpflegerin ihre Arbeit frühzeitig aufgeben. Heute lebt sie von Tag zu Tag. Gute Tage verbringt sie draussen, in der Natur – das gibt ihr Kraft und Energie für schlechtere Tage. Ob es ihr geholfen hätte, früher Gewissheit zu haben? «Nein», sagt sie bestimmt. «Es wäre mir nicht besser gegangen, die Krankheit ist ja unheilbar. Ich hatte auch unbeschwerte Jahre – das wäre mit einer Diagnose nicht möglich gewesen». Stattdessen hätte sie sich teilweise gewünscht, von den Ärzten ernster genommen zu werden. «Vielen Ärzten ist es unangenehm, keine Diagnose stellen zu können. Sie sagen dann lieber, dass nichts ist, als dass sie nichts gefunden haben. Dadurch fühlen sich die Patienten nicht ernst genommen – und zweifeln womöglich an sich selber», sagt sie.
Seit der Diagnose werde sie jedoch von einem sehr guten Ärzteteam betreut: «Auch wenn es für Leute wie mich keine medizinische Hilfe gibt, so ist es doch sehr wertvoll, eine Anlaufstelle zu haben, die zuhört und weiss, wovon man spricht».